Auszug aus: Stebler F.G., „Die Vispertaler Sonnenberge", Jahrbuch der Schweiz, 56. Jahrgang, Schweizer Alpenclub, Bern, 1921          Inhaltsverzeichnis

Das Obst und die wildwachsenden Nutzpflanzen.

Kirschen. - Amoldere. - Pflaumen und Zwetschgen. - Aprikosen. - Äpfel und Birnen. - Walnüsse. - Haselnüsse. - Arvennüsschen. - Beeren. - Heilpflanzen. - Wildwachsende Nutzpflanzen.

Die an dem Berge vorkommenden Obstarten sind zumeist Wildlinge. Am verbreitetsten ist der Kirschbaum, der sich mit Vorliebe an den Ackerrändern ansiedelt und durch Samen und Wurzelausschläge vermehrt. In Törbel steigt er bis gegen 1800 m (halbwegs zwischen den Voralpen auf der Isch und Batt). In guten Jahren geben die Bäume eine reiche Kirschenernte. Meist sind es kleine, schwarze, seltener rote, zuckersüsse Früchte. Da und dort sieht man auch veredelte Sorten, sogenannte «Grafji» (von greffer = pfropfen), mit grössern Früchten; sie sind jedoch gegen Witterungseinflüsse empfindlich und fallen leicht dem Gummifluss zum Opfer. Man pflanzt sie zumeist nur an geschützten Stellen in der Nähe der Häuser. Bei den Dörfern sind die Kirschen ungefähr Mitte August reif, und dann ist tagelang das ganze Dorf, Männlein und Weiblein, auf den Bäumen droben, um die Früchte zu sammeln. Sie werden in Fässer oder in Weinbrenten eingemacht, und später wird daraus Kirschwasser gebrannt. Bei der Kirschenernte nimmt man es nicht sehr genau und lässt noch manchen gefüllten Ast den Vögeln zurück. Eine Bäuerin sagte: «Der lieb Gott hett d'Chriesi waxa la für d'Vogle wie für d'Lüt.»

In Baumgärten mit feuchtem Boden bildet eine Sauerkirsche, hier «A m o l d e r e» genannt, hier und da kleine Buschwäldchen. Die Bäumchen (Fig. 73) bleiben klein, werden oft nicht grösser als ein grosser Rosenstock, die Früchte sind aber grösser und saftiger als die süsse Kirsche. Sie sind sehr fruchtbar und hängen auf günstigem Standort Jahr für Jahr voll Früchte. Die Amoldere vermehrt sich leicht durch Wurzelausschläge; keine andere Obstart entwickelt sich auf gutem Boden so rasch wie diese. Schon nach 3-4 Jahren trägt ein Ausschlag Kirschen.

Fig. 73. Amoldernbäumchen

Neben der Kirsche sind die Pflaumen («Frume») und die Zwetschgen sehr verbreitet. Namentlich in der Umgebung der Häuser (Fig. 72) sieht man an schattigen Stellen ganze Wäldchen von Pflaumen- und Zwetschgenbäumen. Die frühesten sind Ende August reif, die spätern erst zu Allerheiligen. Neben den kleinen, blauen Pflaumensorten, die zur Herstellung von Pflaumenwasser dienen, sieht man hier und da Bäume mit grossen, roten oder blauen Früchten, die zum Einmachen geeignet sind. Wie die Kirschen, vermehren sich auch die Pflaumen meist durch Wurzelausschläge.

Fig. 72. Eggen, Widurn und Sisetsch (Zeneggen).

Merkwürdig ist das Vorkommen eines Aprikosenbaumes («Embrich») in Zenstadlen (Zeneggen) in einer Meereshöhe von 1347 in, es ist wohl der höchste Baum dieser Art weit und breit; die Früchte erreichen jedoch nur die Grösse einer Haselnuss.

Fig. 74. Apfelbaum auf der Isch, 1792 m ü. M.

In der Umgebung der Häuser ist der Apfelbaum verbreitet. Die ältern Bäume sind meist Wildlinge. In guter Lage setzen diese reichlich Früchte an, «wie Räckholdere». Das Blattwerk der Apfelbäume wird häufig durch die Raupen der Apfelblattmotte (Simaethis pariana) total abgefressen. Gegen den bösen Feind ist die Bespritzung mit einem Arsenpräparat zu empfehlen (z. B. Bleiarsenikpaste von Dr. R. Maag in Dielsdorf, Zürich). Die höchsten Apfelbäume stehen in Törbel auf der Voralp auf der Isch, 1712 m ü. M. (Fig. 74), und der obern Riedfluh (1652 m); ein Steinwurf weiter oben leistet ihnen die Arve, ein Hochgebirgsbaum, Gesellschaft. Die beiden Apfelbäume blühen wohl in günstigen Jahren, setzen aber selten Früchte an, während ein Baum in einem Garten auf der Furren (1560 m) fast alljährlich schöne Äpfelchen bringt. Ein 80-90 Jahre alter Apfelbaum mit einem Stammumfang von 126 cm (gleich wie jener auf der Isch) ist im Garten des Hauses «zum Bachhus» (1500 m) in Törbel und trägt je das zweite Jahr in Menge süsse Früchte, die zur Herstellung von Obstwein «(Muschg») verwendet werden. Die Äpfel werden von Hand auf dem Triel mit einem hölzernen Schlegel zerquetscht (Fig. 75) und dann gepresst, wohl die primitivste Mosterei, die es gibt.

Fig. 75. Äpfelbütschen

Nicht selten ist es der Fall, dass der Obstbaum einem andern Eigentümer gehört als dem Besitzer des Bodens, auf dem der Baum steht. So ist ein Apfelbaum auf der Wiese von Vitus Imesch bei seinem Hause Unterm Biel in Zeneggen Eigentum von Dionys Pfammatter. Erst vor wenig Jahren ist dem Joseph Pfammatter ein Baum in der Schalbmatten daselbst, auf der Wiese eines andern, notariell zugefertigt worden.

In den Gärten und an den Häusern werden in neuerer Zeit veredelte Apfelsorten gezogen, wo sie ganz gut gedeihen und Früchte im Gewicht von bis ein Pfund erzeugen, so an einem Spalier im Garten von Ignaz Kalbermatten in Törbel (1500 m). Um die Sorten zu probieren, werden häufig mehrere Sorten auf denselben Baum aufgepfropft; so trug ein Bäumchen einer Wiese in Gruberswasen in Törbel letztes Jahr, 1921, drei verschiedene Apfelsorten.

Das grösste Hindernis beim Obstbau ist der allgemeine Weidgang der Ziegen. Die Bäume müssen deshalb gut eingemacht werden, um sie vor der Naschhaftigkeit dieser Tiere zu schützen.

Selten ist der Birnbaum; er ist viel empfindlicher als alle genannten Obstarten. Ein Baum steht unweit der Kirche in Zeneggen.

Weniger hoch als die Kirschen und die Äpfel steigt der Nussbaum. Ein 70-80 Jahre alter Nussbaum von 1.35 m Stammumfang befindet sich neben dem Schulhaus in Zeneggen, 1374 in ü. M. 1921 trug er eine grössere Anzahl schöner Nüsse. Es ist der höchste Nussbaum der Gegend; früher soll er zwar noch höher gegangen sein. Nach der Sage sollen Nussbäume sogar auf der Alp Moos, 2000 m ü. M., gestanden haben.

Am Ausgang der Alp Moos am Wege nach Törbel ist eine enge Passage, die durch Felsen eingesäumt wird. Einmal in der Nacht kam ein Mann hier vorbei und sah von ferne auf dem Felsen einen feurigen Riesen stehen, mit einem Bein auf dem rechten, mit dem andern Bein auf dem linken Felsen; unten ging der Weg durch, den der Mann gehen musste. Beherzt wagte er es und ging rasch unter dem "Botzen" durch. Als er vorbei war, drehte er sich um und fragte, was er hier tue. Der feurige Mann gab zur Antwort, er habe bei Lebzeiten auf der Alp Moos Nüsse gestohlen und müsse den Frevel nun büssen. In neuerer Zeit hat man den Botzen jedoch nie mehr gesehen.

In einer Stube in der Bine ob Törbel (1625 m) steht ein nussbaumener Tisch, der von einem daselbst gewachsenen Nussbaum verfertigt worden sei. Historisch ist, dass der Eigentümer des Hauses zur Stapfen in Törbel, 1480 in ü. M., früher der Kirche in Visp als Zehnten Nussöl abliefern musste. Heute ist dieser Baum nur in tiefern Lagen heimisch.

Am untern Waldrand ob Zeneggen und in dem Schuttgebiet der alten Bergstürze, z. B. im Haselboden und im Gstein, ist die H a s e l n u s s häufig, die im Herbst von kleinen und grossen Kindern gesammelt, meist aber vom Eichhörnchen und dem Nusshäher geraubt wird.

Ein Kinderreim heisst:

«Chleis, chleis Druselibus,

Chum mit mir in d'Haselnuss,

I weiss e ganzi Stude voll

Und weiss nit wo-n-i drüber soll.»

Der gesuchteste Leckerbissen des Volkes sind aber die Arvennüsschen, die im Herbst in Menge gesammelt werden. Schon Anfang September, wenn sie zu reifen beginnen, zieht Jung und Alt mit der Tschiffere hinauf in den obersten Wald, wo die «Zäpfebäume» (Arven) heimisch sind. Die höchsten Bäume werden von Männern und Frauen erklettert und die Zapfen gepflückt. Man nennt dies «Zäpfestriche». Die grössten Zapfen finden sich an den Gipfeltrieben. Wenn sie nicht zu erreichen sind, so wird einfach der Gipfel mitsamt den Zapfen abgeschnitten. Zwar hat die Arve ein zähes Leben, aber der Baum wird dadurch doch geschädigt, weshalb es nur recht und billig ist, wenn das Gesetz das «Zäpfestriche» verbietet. Trotzdem werden Dutzende von Tschifferen voll heim getragen, im Keller oder im Speicher ausgebreitet und, wenn die Zapfen «tschellig» sind, d. h. wenn sich die Zapfenschuppen öffnen, werden die Nüsschen herausgeklaubt. Diese werden dann mit den Eckzähnen aufgeknackt und die Kerne gegessen. Man heisst dies «Zäpfebäcke». Das Zäpfebäcke ist im Herbst die beliebteste Unterhaltung der jüngern Generation, und manche holde Schöne hat im Herbst im Rock statt des Nastuches eine Anzahl klebriger Arvenzäpfchen. Die Gassen des Dorfes sind in dieser Zeit förmlich übersät mit «ausgebäckten» Zapfen. Anfänglich lassen sich die Nüsschen leicht aufknacken; wenn sie ausgetrocknet sind, werden sie härter und setzen den Zähnen einen grössern Widerstand entgegen. An Herbstabenden sitzt oft die ganze Familie in der Stube oder in der Küche zusammen und liegt dem Zäpfebäcke ob. Ein mittlerer Zapfen beherbergt unter seinen Schuppen über hundert Nüsschen. Ich zählte deren u. a. 107, 112 und 117. Aber im Nu sind die Kerne vertilgt, denn die Jugend hat in dieser Sache eine grosse Virtuosität. Bald ist eine Tschiffere voll geleert. Eine Tschiffere voll Zapfen gibt ein halbes Fischi (7 1/2 Liter) Nüsschen, die etwa ein Kilo wiegen. Es heisst, dass es in Birchen Familien gebe, die im Herbst mehr Zäpfen im Keller haben als Kartoffeln. Den Arvenzäpfen wird im Herbst durch die Menschen, die Eichhörnchen und die Nusshäher so stark nachgestellt, dass man Ende September selten mehr einen Zapfen auf den Bäumen findet. Das Eichhörnchen frisst die Zapfen schon sehr früh aus, bevor sie reif sind. Am 26. Juli 1918 zählte ich unter einer Arve auf der Voralp zur Diebjen in Zeneggen, 1600 m ü. M., über 50 von den Eichhörnchen ausgefressene Zapfen. Der «Zapferäggi» (Nusshäher) trägt sie gewöhnlich vom Baum weg und frisst sie irgend auf einem Baumstrunk aus. Die vom Eichhörnchen und vom Häher ausgefressenen Zapfen sind leicht voneinander zu unterscheiden.

Von Beerenarten sieht man in Gärten häufig die Johannisbeere, seltener die Stachelbeere. Die Johannisbeere ist sogar auf der Alp Moos bei 2100 m angepflanzt worden.

Von wildwachsenden Beeren ist die ganze obere Berggegend vom Sommer bis in den Herbst reich, besonders an H e i d e l b e e r e n, von denen man im lichten Wald ausgedehnte Felder findet. Die Früchte werden gross, und die Stauden setzen in guten Jahren so reichlich an, dass ein fleissiges Mädchen im Tag leicht 5-6 Kilo sammeln kann. Sie sind Anfang bis Ende August reif, je nach der Höhenlage. Die Heidelbeerstauden werden in Birchen aber auch abgeschnitten, gedörrt und dann von Kräuterhändlern zu technischen Zwecken aufgekauft.

Neben der Heidelbeere findet man an einigen Orten ziemlich häufig auch die Preisselbeere, in Zeneggen «Schkizle», in Törbel «Grifle» genannt, die etwas später reift. Weniger verbreitet sind die Erdbeere, die rote Himbeere, die blaue Himbeere (letztere heisst in Zeneggen «Rameni» oder «Römeni», in Törbel «Bremer»; die rote Himbeere ist die «rote Bremer») und die Felsenhimbeere («Hundsknochen»). In der Nähe der Wohnungen sieht man den schwarzen Holunder «(Sireni») und im Gebüsch an Feldrändern den roten Holunder («Judenbeere»). Dieser Name soll daher kommen, weil Judas Ischarioth sich an einer roten Holunderstaude erhängt haben soll. Die Trauben des schwarzen Holunders werden hin und wieder gesammelt und zu Mus eingekocht, während der rote Holunder nicht benützt wird. Von andern Früchten, die selten oder nie gewonnen werden, sind zu nennen die «Vogelkirsche» (Weichsel), die «Bulggeni» (Felsenmispel, Amelanchier vulgaris Mönch), die Wacholderbeeren, die Schwiderbeeren (Berberitze) und die Helfen (Hagebutten).

Sehr häufig werden auf den Bergen allerlei Heilpflanzen gesammelt. Von Unterbäch allein sind im Jahre 1916 für Fr. 10,000 Arzneipflanzen nach Zürich geliefert worden, am meisten Isländisch Moos «(Dirrigag»), wovon von der Station Raron ganze Wagenladungen spediert wurden. Das Isländisch Moos, eine Flechte, kommt besonders in hohen Lagen vor; an Nordhängen überzieht es den Boden oft mit einer handhohen Schicht. Die Flechte muss am frühen Morgen, wenn sie noch feucht und elastisch ist, gesucht werden. Wenn sie abgetrocknet ist, so wird sie spröde, und man bekommt beim Sammeln wunde Finger. Die Sammler ziehen oft schon kurz nach Mitternacht aus, um rechtzeitig in der Höhe zu sein. Am frühen Morgen und im Laufe des Vormittages wird dann gesammelt, die Ernte zum Trocknen ausgebreitet, im Laufe des Nachmittages in Säcke verpackt und diese dann auf Schlitten ins Tal geschafft. Ein Mann konnte mit 2-3 Kindern im Tag auf guten Plätzen im Ginanz für 30-40 Franken Dirrigag sammeln. Der Ertrag ist aber heute nicht mehr so reichlich wie früher, da die besten Lagen ausgebeutet sind und das Isländisch Moos sieben Jahre braucht, bis es wieder nachgewachsen ist. In vorgeschrittenem Alter besitzen die Lamellen fast die Grösse eines Löwenzahnblattes.

Fig. 76. Transport der Garlen nach Visp.

In Zeneggen wurden während der Kriegsjahre hauptsächlich «Garlen», das sind die Blätter der Bärentraube (Aretostaphylos Uva ursi), gesammelt. Der nieder liegende Strauch findet sich gewöhnlich im lichten Kiefern- und Tannenwald. Die Stauden werden mit der Hand ausgerupft und zu Hause im Schatten getrocknet; später werden die Blätter abgeklopft und dem Zwischenhändler verkauft (Fig. 76). Weniger wichtig sind die andern Heilpflanzen: Das Fünffingerkraut (Potentilla argentea), die «Hühnerloiber» (Alpenrosenblätter), die Brombeerblätter, die «chline Chelle» (Thymian), die «grosse Chelle» (Dosten), Wermut, Isop, die Edelraute, die verschiedenen Schafgarben, das Steinbockkraut (Gletscherhahnenfuss), das gelbe Labkraut, die Schneeberger (Arnica montana).

Auch die prächtigste Glockenheide (Erica Carnea) wird gesucht und zur Anfertigung von «Bischel» (Pfannenriebel) benützt. Die Wurzeln des reithgrasartigen Pfriemengrases (Stipa calamagrostis), das am Rande der.Weinberge mächtige Horste bildet, werden ausgegraben und zu «Vollenschub» (Milchfilter) und Reisbürsten verwendet.


nächstes Kapitel

Seitenanfang

Inhaltsverzeichnis "Stebler"