Auszug aus: Stebler F.G., „Die Vispertaler Sonnenberge", Jahrbuch der Schweiz, 56. Jahrgang, Schweizer Alpenclub, Bern, 1921 Inhaltsverzeichnis |
Bewässerung (4): Die Springerin und die Felderin.
Kehrordnung. - Wässerziele. - Beispiele der Wasserbenützung. - Der stille Kehr. - Arbeitsaufwand.
Die Springerin und die Felderin sind zwei Wasserleitungen, die das ausgedehnte, unterhalb der Voralpen gelegene Land von Törbel berieseln. Beide Leitungen werden vom Törblerbach (Fig. 64) gespiesen, der dem Telli entströmt. Wenn im Winter viel Schnee fällt, so fliesst der Bach im Sommer reichlich und führt genug Wasser, um beide Leitungen im Überfluss zu speisen. Im Vorsommer kann der Bach nach schneereichem Winter sogar zur Speisung der Niwen benützt werden, die oberhalb der Schwendi den Bach durchquert. Das Törbeltelli (Fig.41), ein von Ost nach West ziehendes, steiles Hochgebirgstälchen, ist das unschätzbare Wasserreservoir für die Törbler Wasserleitungen. Es ist von drei Seiten durch einen hohen Grat eingefasst, dessen höchste Erhebungen im Süden der Mellich (2768 m), das Törbler Schwarzhorn und das Augstbordhorn (2974 m), im Norden der Walker (2602 m) und die Helmenen (2794 und 2867 m) sind. Im Sommer weiden hier die Rinder von Törbel und einige invalide Schafe. Im obern Teil bildet ein armer Krummseggenrasen den Grasbestand, dem beim untersten SeeIein die niedrigen blauen Sternlein der Zwergrapunzel (Phyteuma pauciflorum) beigemischt sind. Aber auch an den steilen Hängen blüht manch schönes, hochalpines Pflänzchen, so der Gletschermannsschild (Androsace glacialis). Ganz im Hintergrund, ungefähr in 2600 m Meereshöhe, liegen mehrere kleine Alpenseelein, die im Sommer von den zahlreichen, an den Halden, besonders am Augstbordhorn, lagernden Schneeplätzen gespiesen werden. Umgeben von wilden Schutt- und magern Weideplätzen, bilden dieselben an schönen Sommertagen ein hochromantisches Bild und werden häufig als Ausflugsziel gewählt. Das schönste dieser Seelein ist das oberste; etwas höher liegt der sagenhafte Mordstein (Fig. 111), und im Hintergrunde führt zwischen Augstbordhorn und Helmenen das «Grätji», ein 2800 m hoher Sattel, ins Ginanztal. Das Wasser der Seelein versickert teilweise in dem losen Steingeröll und kommt dann tiefer unten wieder zum Vorschein. So sieht man im untern Teil des Telli zahlreiche Quellen hervorsprudeln, die schliesslich zu zwei Bächlein heranwachsen, zwischen welchen ein fruchtbarer, zu der Alp Moos gehörender Weidebezirk, «Zwischbach» genannt, liegt. Weiter unten vereinigen sich beide Bächlein zu dem ansehnlichen Törblerbach.Im Winter 1920/21 fiel bekanntlich sehr wenig Schnee. Die wenigen Schneeflecken im Telli schmolzen im Sommer rasch weg, der Wasserstand in den Seelein war ausserordentlich tief, und die Quellen flossen spärlich. Der Tellibach lieferte nicht genügend Wasser und konnte die beiden Wasserleitungen nicht ausreichend mit Wasser versorgen. So litt die Gemeinde an Wassernot.
Das Wasser des Tellibaches wird bei der Voralp Schwendi geteilt. Hier entnimmt die Springerin dem Bache 2 /3 des Wassers, während 1/3 im Bache gegen St. Anna weiterfliesst, weiter unten eine Walke und mehrere Mühlen treibt und dann unter der untersten Mühle in der Höhe des Dorfes in die Felderin geleitet wird. Unterwegs, von der Abzweigung der Springerin bis zur Wasserfassung der Felderin, nimmt der Bach durch mehrere Quellen zu, und man schätzt, dass schliesslich beide Leitungen gleichviel Wasser bekommen. Die Teilung des Wassers bei der «Aschepfi» der Springerin geschieht unparteiisch, jedoch ohne Schleusen, durch den Gewalthaber der Gemeinde. Wenn die Felderin nicht alles Wasser des Baches beansprucht, so fliesst es den Bach hinab und wird dann weiter unten zur Speisung der Staldnerin benützt.
Die Springerin und die Felderin sind, wie alle genannten Wasserleitungen, Privateigentum einer Geteilschaft. Sie werden von den Geteilen nach einer gewissen Rangordnung (nach dem «Kehr») benützt. Ein Kehr dauert 16 Tage, die Sonntage zählen nicht. Wenn die 16 Tage um sind, so fängt ein neuer Kehr an, und so etwa zehnmal vom Frühjahr bis in den Herbst. Der erste Kehr beginnt am ersten Samstag im April. Ein Kehr beansprucht also mit zwei Sonntagen 18 Tage. 10 Kehre mit 26 Sonntagen 186 Tage. Das Wasser ist während Tag und Nacht bestimmte Zeitperioden den einzelnen Geteilen zugeschieden.
Fig. 65. Wasserabschalter von Birchen und Zeneggen. |
Merkwürdigerweise dienen als Ziele der Berechtigung nicht etwa die Stunden an der Uhr, sondern der Sonnenstand, eine Einrichtung, die zugleich auf das hohe Alter der Bewässerung hinweist. Man hat sogenannte Sonnenziele und Schattenziele. Sie stammen noch aus einer Zeit, wo man noch keine Uhren besass. Erst später verwendete man bewegliche Sonnenuhren. Diese alten Zeichen haben sich aber bei den zwei Törbler Leitungen trotz der allgemeinen Einführung der Uhren mit wenig Änderungen bis auf den heutigen Tag erhalten, und wehe dem, der daran rütteln wollte! Der Bergbewohner hält mit Hartnäckigkeit an der alten Einrichtung fest, trotzdem diese Ordnung Anlass zu mancherlei Streitigkeiten bietet und die Regulierung nach der Uhr viel einfacher wäre. Für den Nichteingeweihten hält es schwer, sich in den Verhältnissen zurechtzufinden. Manche Stunde habe ich geopfert, bis ich einigermassen orientiert war. Für den, der ein Grundstück mit Wasserrecht kauft und mit der Wässerordnung nicht vertraut ist, dauert es Jahre, bis er seine Rechte genau kennt. Bis dahin ist er auf die Angaben seiner Nachbarn angewiesen.
Fig. 66. Schattenzeichen "Z'Ottava". |
Der Tag ist in zahlreiche Abschnitte eingeteilt. Diese Abschnitte werden begrenzt durch den Stand und die Zeichen der Sonne (Schatten) auf der Erde; die Zeit an der Uhr dient nur als Kontrollmittel. Diese Zeichen heissen «Wasserziele». Die wichtigsten täglichen Wasserziele von Törbel sind:
Nun folgen die Schattenziele:
Schattengspon, wenn die Sonne so weit sinkt, dass der Schatten bis in die ersten Wiesen vom Gspon reicht (Fig. 68), etwa 8 Uhr (am 1. September 6 Uhr 15).
Angeri Nacht oder Sternebschine, wenn die Sterne erscheinen.
Diese Ziele werden jedoch nicht bei jedem Grundstück angewendet; am allgemeinsten benützt man die kursiv gedruckten. Umgekehrt gibt es bei einzelnen Fluren oder Grundstücken auch andere lokale Ziele, die hier nicht genannt sind, z. B.: Schopfbschine, Satteleggbschine, Fluhbschattni, Ischbschine , Spitze-Tschuggebschine (Bärmatte), Schirbschine, Schatte über d'Schir, Mittagplatte (bei Mühlebach), Strahlbschine (Riedji), Schatten zum runden Waldji (ob der Kirche von Staldenried) usf.
Fig.67. Schatten zum Bildji. |
Die Dauer von einem Ziel zum andern beträgt im Hochsommer:
1. Mitternacht bis Tagaufgang | 2 1/2 Stunden |
2. Tagaufgang bis Wissgratbschine . | 1 Stunden |
3. Wissgratbschine bis Walkerbschine | 1/2 Stunde |
4. Walkerbschine bis Stadeltibschine | 2 Stunden |
5. Stadeltibschine bis Riedbschine . | 1 Stunde |
6. Riedbschine bis Dreifurrenbschine | 1 Stunde |
7. Dreifurren bis Mittag | 3 Stunden |
8. Mittag bis Schattigwasser | 4 Stunden |
9. Schattigwasser bis Ottava | 1 1/2 Stunden |
10. Ottava bis Ober-Ottava | 1 Stunde |
11. Ober-Ottava bis Schatten zum Bildji | 1 Stunde |
12. Schatten zum Bildji bis Schattengspon | 1/2 Stunde |
13. Schattengspon bis Angeri -Nacht | 2 1/2 Stunden |
14. Angeri Nacht bis Mitternacht | 2 1/2 Stunden |
Die Ziele lassen uns natürlich im Stich, wenn die Sonne verdeckt ist, was allerdings bei dem «ewigen» Sonnenschein des Sommers im Wallis selten der Fall ist. Für diesen Fall merkt man sich im voraus die Zeit des Zieles an der Uhr. Selbstverständlich richtet sich diese nach der Höhe des Sonnenstandes. Die oben genannten Zeiten gelten für den Hochsommer, wenn das Wasser am wertvollsten ist. Im Frühjahr und Herbst, wenn der Sonnenstand niedriger ist, sind die Tagesziele kürzer und dafür die Nachtziele um so länger - die Höhen werden später beschienen, und die Schatten kommen früher. Walkerbschine war z. B. am 12. Juni 4 Uhr 35, am 1. Juli 4 Uhr 50, am 26. Juli 5 Uhr 10, am 31. August 5 Uhr 30.
Zur Ausgleichung wechselt man die Rangordnung bei der Benützung des Wassers, wie dies aus folgenden Beispielen hervorgeht.
Fig. 68. Schattengspon.Gspon. |
Eine Wiese in der Bodmen hat folgende Wässerrechte:
1. ein Kehr Tagaufgang bis Dreifurren,
2. ein Kehr Dreifurren bis Schattigwasser,
3. ein Kehr Schattigwasser bis Schattenaspor
4. ein Kehr Schattengspon bis Tagaufgang, zusammen 24 Stunden.
Gleich zu Beginn der Wässerung im Frühjahr wird durch das Los festgestellt, welches von diesen vier Zielen beim ersten Kehr zuerst an die Reihe kommt. In zweiten Kehr kommt das nachfolgende, im dritten schliesslich das dritte und im vierten das vierte. Dann wiederholt sich die gleiche Reihenfolge bis zum Schlus der Wässerung im Herbst.
Stellenweise wechselt die Rangordnung in den einzelnen Jahren.
Eine Wiese in der Hofmatten hat je am 12. Tage in jedem Kehr folgende Wässerrechte:Im ersten Jahr:
im ersten Kehr, Dreifurren bis Mittag, zweite Hälfte;
im zweiten Kehr, Ottava bis Schatten zum Bildji, erste Hälfte.
Im zweiten Jahr:
im ersten Kehr vom Mittag bis Schattigwasser, erste Hälfte;
im zweiten Kehr, vom Schatten zum Bildji bis Angeri Nacht, zweite Hälfte.
Im dritten Jahr:
im ersten Kehr, von Mittag bis Sebattigwasser, zweite Hälfte;
im zweiten Kehr, von Angeri Nacht bis Mitternacht, erste Hälfte.
Im vierten Jahr wiederholt sich der Turnus.
Ein anderes Beispiel:
Zehn Wassergeteilen A bis K haben für eine Wiesenflur in der Schlucht im Kehr je am 12. Tage das Wasser der Felderin. Dieses Wasser ist eingeteilt in vier Ziele.
Erstes Ziel: Tagaufgang bis Dreifurren | 6 Stunden |
Zweites Ziel: Dreifurren bis Schattigwasser | 7 Stunden |
Drittes Ziel: Schattigwasser bis Schattengspon | 4 1/2 Stunden |
Viertes Ziel: Schattengspon bis Tagaufgang | 6 1/2 Stunden |
zusammen |
24 Stunden |
Mit diesen Zielen wird abgewechselt.
1. Je ein Ziel gehört dem | A, B und C |
2. Je ein Ziel gehört dem | D und E |
3. Je ein Ziel gehört dem | F, G und H |
4. Je ein Ziel gehört dem | U und K |
Es wird im Frühjahr durch das Los entschieden, welches Ziel die Geteilen zuerst erhalten sollen. Es werden vier ungleich lange Strohhalme gemacht. Wer den längsten Halm zieht, fängt im ersten Kehr mit dem ersten Ziel an, der zweitlängste mit dem zweiten, der drittlängste mit dem dritten, der kürzeste mit dem vierten. Im zweiten Kehr bekommt der zweitlängste Halm das erste Ziel, der längste das vierte Ziel usf.
Von diesen Zielen haben jedoch nicht alle Teilhaber einen gleich grossen Anteil. A hat das Recht, eine halbe Stunde vorweg zu nehmen, dem B gehört 1/6 und dem C 5/6 vom Rest. Also bekommt im ersten Kehr, wenn A-C den längsten Halm gezogen haben, A eine halbe Stunde vorweg, B erhält 1/6 von 5 1/2 Stunden = 55 Minuten, C 4 Stunden 35 Minuten usf.
Im zweiten Kehr bekommen A-C das zweite Ziel, D und E das dritte und F, G und H das vierte und I und K das erste usf.
Dies sind einige der einfachern Beispiele; es gibt aber Tage, da bis 7 verschiedene Ziele abwechslungsweise unter eine grössere Zahl von Genossen zu verteilen sind; dann findet sich nur der Eingeweihte zurecht. Die Verhältnisse sind oft so verzwickt kompliziert, dass es geistiger Anstrengung bedarf, um sie zu begreifen, und doch ist der einfache Bauersmann infolge jahrelanger praktischer Übung genau orientiert.
Einfacher ist die Lage beim sogenannten «stillen Kehr»; man versteht darunter solche Wasserziele, die sich bei jedem Kehr gleich bleiben, d.h. zu gleicher Stunde eintreten, so z.B. die Wiese in der «Schluchtschir» immer am 9. Tag von Walkerbschine bis Stadeltibschine, erste Hälfte.
Der Einzelne hat in einem Kehr an einem einzigen Tag oft mehrere Ziele Wasser zu benützen, wenn auch nur für kurze Zeit. Folgendes Beispiel zeigt die Wasserrechte eines Kleinbauern L. W. im fünften Kehr, vom 5. bis 22. Juli 1921:
Im ganzen waren es also 16 verschiedene Wässerungen innerhalb 18 Tagen. Wenn der Sommer 10 Kehre hat, so macht das zusammen 160 Wässerungen bei einem Grundbesitz, der für 4 Stück Grossvieh Futter erzeugt. Auf ein Stück trifft es also im Sommer 40 Wässerungen. Rechnet man für eine Wässerung einen halben Tag Zeitaufwand, so gibt es für ein Stück Grossvieh 20 Arbeitstage. Die Gemeinde Törbel hat aber 1550 Stück Grossvieh, also würde in diesem Verhältnis die Bewässerung 11,000 Arbeitstage erfordern. An steilen Hängen, wo das Wasser einen schnellen Lauf hat, sind vielfach zwei Personen nötig, um das Wasser gleichmässig zu verteilen. Wegen einer halben Stunde Wasser muss man oft einen Weg von mehreren Stunden zurücklegen und versäumt so einen halben Tag. Oft muss man vorher das Wasser eine Stunde weit oben holen, d. h. zuleiten. Vielfach wird am gleichen halben Tag das Wasser auf zwei oder mehr, stundenweit auseinanderliegende Grundstücke geleitet. Das Wässern gibt bei den Wiesen mindestens doppelt soviel Arbeit als das Ernten. Der Bauer muss im Sommer Tag und Nacht auf den Beinen sein. Oft muss er während der Nacht wässern und des Tages über Wiesen und Felder bearbeiten, und kommt so nie zur Ruhe.
Bei Landverkäufen und Erbteilungen wird das Wasserrecht, d. h. das zugehörige Wasserziel, der Kehr und der Tag des Kehres ins Grundprotokoll mit betreffendem Grundstück eingetragen.