Auszug aus: Stebler F.G., „Die Vispertaler Sonnenberge", Jahrbuch der Schweiz, 56. Jahrgang, Schweizer Alpenclub, Bern, 1921          Inhaltsverzeichnis

Die Bewässerung  (1)

Klima. - Wirbelwinde. - Dürre. - Gebetprozessionen. - Künstliche Bewässerung - Gletscherwasser und Schneewasser. - Quellen. - Die Weiher. - Die Wasserleitungen, deren Ausdehnung und Alter. 

Das Klima des Wallis, besonders dasjenige des mittlern Rhonetals und der angrenzenden Berggemeinden, charakterisiert sich durch grosse Trockenheit. Das Gebiet liegt im Regenschatten hoher, vergletscherter Gebirge, die über Nacht die in der Luft angesammelten Wasserdämpfe an den ausgedehnten, kalten Eisflächen kondensieren und so die Luft austrocknen. Die Gegend ist deshalb regenarm. Wenn am Abend alle Anzeichen für einen ergiebigen Regen vorhanden sind, so hellt sich über Nacht der Himmel wieder auf, und am andern. Morgen herrscht der klarste Sonnenschein. Gewitter sind selten. Daneben existiert in den tiefern Lagen im Sommer eine fast tropische Hitze. Nach den Aufzeichnungen der schweizerischen meteorologischen Anstalt ist Grächen die regenärmste Station der Schweiz. Noch ärmer an Niederschlägen sind aber zweifellos die diesem gegenüberliegenden Sonnenberge. Wenn sich hinten im Mattertal und in Saas schwere Wetterwolken entladen und man sich der Hoffnung hingibt, der Segen möchte sieh auch über das untere Vispertal ergiessen, so täuscht man sich fast regelmässig, denn bis an unsern Berg kommen kaum einige Regenspritzer. Der Berghang von Grächen erhält vielleicht noch eine gelinde Befeuchtung, die Sonnenberge gehen aber leer aus. Nahen Regenwolken von Süden und Südwesten, so kommt sehr häufig von Norden her ein Wind, der die Wolken wieder das Tal hinaufjagt. Bei Gewitterluft kann man im Sommer dieses Naturschauspiel fast täglich beobachten. Wenn gegen Mittag oder im Laufe des Nachmittags der Wind vom Rhonetal her weht, kann man fast sicher sein, dass andern Tags schönes Wetter herrscht.

Durch die Lage, an einem Kreuzungspunkt mehrerer Täler bedingt, sind im Sommer in Törbel die häufig auftretenden Wirbelwinde («Turmel»). Sie entstehen durch das Zusammentreffen der Winde aus Saas, dem Augsttal und dem Rhonetal. Diese Turmel tragen das auf der Wiese liegende Heu wirbelnd oft Hunderte von Metern hoch in die Luft und lassen es nach kurzer Zeit wieder niederfallen.

Im Sommer vergehen oft Wochen, ja Monate, bis ein nennenswerter Regen niederfällt; alles droht zu vertrocknen. Kein Wunder, wenn das fromme Walliser Volk in solchen Fällen sein Gebet zum Himmel erhebt und den Allmächtigen um Regen anfleht. In der Not werden grosse Bittgänge zu den Heiligen veranstaltet. So wallfahrteten am 24. Juni 1921 die vier Gemeinden Birchen, Zeneggen, Törbel ,und Emd zum St. Anton in den Törbler Alpen (Fig. 62), um Regen zu erflehen und zugleich gegen den «Viehbresten» (Maul- und Klauenseuche) zu beten, der in der Nachbarschaft grassierte. Ein Monat später, am 25. Juli, wurde die Wallfahrt zu gleichem Zwecke zu der Kapelle der 14 Nothelfer auf dem Biel bei Zeneggen wiederholt. Alles, was gehen konnte - über tausend Personen -, nahm an der Prozession teil. Wenn man bedenkt, dass der Weg, den die entferntesten Pilger zurücklegen mussten, 6 bis 8 Stunden beträgt, so muss man das Gottvertrauen der frommen Menschen bewundern. Ausserdem fanden in den verschiedenen Gemeinden noch kleinere Gebetfahrten innerhalb der Gemeinde statt, so in Törbel nach Burgen und zur St. Annakapelle am Bach. In dem trockenen Sommer 1893 veranstalteten die Bewohner von Zeneggen 14 verschiedene Prozessionen. Als der Regen immer noch nicht kam, wallfahrtete man gemeinsam mit Törbel, Emd, Stalden, Staldenried und Eisten zu der Mutter Gottes an der «Hohen Stiege» im Saastale, wo sich Saasgrund, Almagell und Fee anschlossen. Die Zenegger reisten des Morgens in der Dunkelheit ab und kamen erst in der folgenden Nacht heim; es war eine schwere Gebetfahrt, aber Gott erhörte das Gebet, schreibt Lagger, und im Nachsommer war das Wetter leidlich.

Fig. 62. Prozession für Regen nach St. Anton; Bergpredigt.

Zwar ist der Glaube an den Erfolg des Gebetes auch nicht allgemein; so soll ein Emder Bauer den Ausspruch gewagt haben:

«Segen Gottes har, Segen Gottes dar, Mist und Wasser muess si!»

Die Sonne scheint im Sommer fast senkrecht auf die nach Süden geneigten Hänge und trocknet das ohnehin trockene Erdreich vollends aus. Kommt dann ein leichter Regen, so fliesst das Wasser oberflächlich ab und kommt den Pflanzen kaum zugute. Um von dem Boden einen Ertrag zu erzielen, ist man auf die künstliche Bewässerung angewiesen. Wo nicht gewässert werden kann, ist das Land fast ertraglos. Wird der Boden dagegen bewässert, so entsteht sofort eine reiche Vegetation. Das ganze Leben der Natur dreht sich deshalb um das scheinbar kraftlose Element - das Wasser.

«Ohne Wasser kein Heu, ohne Heu kein Vieh, ohne Vieh kein Fleisch, keine Milch, keine Butter, keine Käse, kein Geld.»

Der Dünger wirkt wenig oder nicht, wenn nicht gewässert wird. Das an den sonnigen Hängen unter dem Einfluss der Bewässerung erzeugte Futter ist sehr nährstoffreich. Man sieht die herrlichsten Wiesenbestände mit dem besten aller Futtergräser, dem goldig glänzenden Goldhafergras, als Hauptbestandteil, untermischt mit Klee aller Art. Man berechnet die Fläche künstlich bewässerten Bodens im Wallis auf 400 Quadratkilometer, entsprechend 40,000 ha oder über 100,000 Jucharten.

Das Wasser wird meist weit oben im Gebirge, oft direkt vom Gletscher, stundenweit hergeleitet. Das Gletscherwasser ist am geschätztesten, weil es viel feinen, aufgeschlossenen Schlamm enthält, der den Boden nicht nur befeuchtet, sondern zugleich befruchtet. Infolge des Schlammgehaltes ist das Gletscherwasser milchigweiss, es ist die «Milch der Gletscher». Wasser aus dem Gebiet des Urgebirges ist nährstoffreicher, als solches aus Kalk und besser als Schneewasser. Durch den Gletscherschlamm wird die Leitung zugleich gleichsam auszementiert, wodurch die Wasserverluste geringer werden, während Schneewasser die Leitung leicht durchlocht und einen Ausweg nimmt. Das Wasser aus dem Kalkgebiet magert aus, setzt oft sogar Tuff an und verkrustet den Boden. Vorzügliches Wässerwasser liefern die südlich der Rhone zufliessenden Bäche und Flüsse von der Dranse bis zur Gamsa und die aus dem Norden kommenden Zuflüsse von der Lonza bis zum Fiescherbach, die alle aus dem Gebiet des Urgebirges kommen. Berühmt ist z. B. die «Gletschermilch» der Massa und des Baltschiederbaches, der zehn künstliche Wasserleitungen speist, sowie jene des Gredetschtales, dessen neun Wasserleitungen 82 Kilometer messen.

Neben dem aus der Ferne zugeleiteten Wasser werden alle Quellen in der Nähe, wo irgendwo ein Wässerlein zum Vorschein kommt, in Weihern «Wien» gesammelt und zum Wässern benutzt, denn kleine Quellen verkühlen und versauern den Boden, wenn das Wasser nicht abgeführt wird. In der Gemeinde Zeneggen zählt man nicht weniger als 20 solche Weiher, in Törbel deren 16. Die grössern bilden kleine Seelein; die meisten sind aber klein, einige kaum zehn Quadratmeter messend.

Fig. 61. Bielweiher In Zeneggen.

Dem Bielwier (Fig. 61) hinter dem Biel in Zeneggen entfliesst im Vorsommer ein kleines Bächlein, das sich bald leise schwatzend, bald laut rauschend in das Land hinab flüchtet und den Boden segnet. An der tiefsten Stelle des Weihers befindet sich im Grunde eine steinerne Platte oder ein Baumstamm mit einem runden Loch, «der Naba», die den Auslauf bildet. Die Naba kann mit der «Stange», deren unteres Ende genau in die Naba passt, verschlossen werden. In der Regel wird die Stange zweimal im Tag gezogen und das Wasser zur Berieselung benutzt. Die kleinern Weiher sind etwa nach einer Stunde leer. Dann wird die Stange wieder in die Naba eingesetzt; man nennt diese Arbeit das «Bschiben» («der Wier ist bschibet»). Das Wasser der Weiher ist meist halbtageweise unter die Berechtigten verteilt. In der Regel wird er je um 7 Uhr abends und morgens «bschibet», nachdem er zwischen 4 und 6 geöffnet war. Einer der grössten Weiher ist der Weiher ob der Diebjen (Dieblwier) in Zeneggen; in Törbel ist es der Hofstettenwier, der von einer wasserreichen, Sommer und Winter gleich stark fliessenden Quelle, «in Wassern» genannt, gespiesen wird.

Der Turnus (Kehr) der Wässerung dauert, wie bei den grossen Wasserleitungen, auch bei den Weihern in der Regel drei Wochen (21 Tage), dann fängt er von neuem an. Beim Dieblwier beträgt der Kehr vier Wochen. 25 Berechtigte haben Anteil. Die Grösse des Anteilrechtes des einzelnen beläuft sich auf ½-2 Tage.

Mit dem Wasser der Weiher kann jedoch nur ein kleiner Teil des wasserbedürftigen Kulturlandes bewässert werden; ein viel grösseres Wasserquantum muss aus entferntern, wasserreichen Gebieten zugeführt werden. Dies geschieht durch die

 

Wasserleitungen.

Die Wasserleitungen, «Wasserleiten» oder «Wasserfuhren», französisch «Bisses» (von bief, Bachbett), werden im Oberwallis auch Suonen oder Sienen genannt, abstammend von «Sühne». In alter Zeit, als die Bürger zur Instandstellung der Leitungen zusammenkamen, wurden daselbst zugleich auch die Gemeindeangelegenheiten erledigt und Gericht gehalten. So entstand das Wort «Suon», «Siene» und bedeutet den Ort der Sühne oder der Sühneverhandlung.

Blotznitzki führt 1871 für das Wallis 117 grössere Wasserleitungen auf. Rauchenstein 1907 deren 207; jedoch h'ät auch dieses Verzeichnis keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Jede Leitung hat ihren Namen. Häufig trifft man die Bezeichnung «Die Neue», die «Niwe», das «Niwerch», Namen, die zugleich auf das hohe Alter der Bewässerung hinweisen, denn diese «Neuen» sind stellenweise schon 500 und mehr Jahre alt und vor diesen bestanden und bestehen heute noch ältere Leitungen, die «alten Suonen», die man an vielen Orten findet.

Einige Leitungen seien schon «von den Heiden», d. h. von den Römern, als diese unser Land besiedelt hatten, gebaut worden; so das «Heidenwasser», das vom Gamsengletscher im Hintergrund des Nanztals über den Bergrücken hinter dem Gebüdem führt und das obere Gelände von Visperterminen befruchtet. Etwas höher als das Heidenwasser führte der alte Heiden, der so viel Wasser geführt haben soll, dass man in demselben bequem ein Lagel Schotte habe fortflössen können. Durch einen Felssturz ist der alte Heiden aber zerstört worden; man kann ihn aber heute noch verfolgen. An dessen Stelle wurde später der neue Heiden gebaut.

Manche Leitungen werden den Sarazenen zugeschrieben, die im achten Jahrhundert in das Land drangen und sich im zehnten Jahrhundert hier festsetzten. In Vercorins ob Siders heisst eine Leitung «Bisse de Sarazins».

In der Geschichte werden die Wasserleitungen im elften Jahrhundert zuerst genannt, die Raspilleleitung im zwölften Jahrhundert, der Bisse de Clavoz in Sitten im dreizehnten Jahrhundert. In Ausserberg existiert eine Urkunde aus dem Jahre 1311, wonach bei der Reparatur einer Leitung aus dem Bietschtal auf einmal zwölf Männer verunglückt sind; das Geschlecht der Jakober sei bei diesem Anlasse ganz zugrunde gegangen. Man liess deshalb diese Leitung eingehen und baute das «Niwerch». Reste der verlassenen Leitung sind aber heute noch vorhanden. - Die Laldnerin, die Wissa und das Ulzwasser in Mund werden schon 1312 genannt, die Bellwalderin 1371.

Zerfallene, uralte Leitungen gibt es viele. Die Mehrzahl der Walliser Wasserleitungen datieren aus dem spätern Mittelalter, der berühmte Torrent de Saviese von 1430. Viele grössere Leitungen sind neuern Datums, ein Beweis, dass man die Notwendigkeit der Bewässerung immer mehr würdigte.

Die Länge der Leitungen beträgt oft viele Stunden. Die Augstbordwasserleitung («die Niwe») und das Ginanzwasser haben je fünf Stunden Länge; der Bisse de Saxon ist 26 km lang, der Bisse des Audannes 23 km, die obere Riederin in Staldenried 22 km usf. Leitungen von 10-20 km gibt es viele.

Durch die lange Leitung an der Sonne erwärmt sich das kalte Gebirgswasser und wirkt dann günstiger auf die Vegetation als kaltes.

«Sunneschin, Sunneschin, macht alli Wasser fin.» (J. C. Heer.)

Alle grossen Wasserleitungen zusammen haben im Wallis nach Rauchenstein eine Länge von 1750 km; man geht aber nicht zu hoch, wenn man 2000 km annimmt, da in der genannten Aufstellung viele Gemeinden, die ein ausgedehntes Wasserleitungsnetz besitzen, fehlen. Rechnet man die Kosten eines Laufmeters nur zu Fr. 5, so beträgt das Anlagekapital 10 Millionen Franken. Die grössern Leitungen sind in der topographischen Karte eingezeichnet.

Die Leitungen der Vispertaler Sonnenberge gehören zu den bemerkenswertesten der Walliser Wasserfuhren. Es sind deren im ganzen sieben: 1. die Augstbordwasserleitung, 2. die Staldnerin, 3. das Ginanzwasser, 4. die Springerin, 5. die Felderin, 6. die Haslerin und 7. die Jeusserin.

Die erstgenannte ist Eigentum der Geteilen von Zeneggen und Törbel, die zweite von Emd, Törbel und Stalden; die Ginanzerin von Unterbäch, Birchen und Zeneggen; die Springerin und die Felderin gehören Törbel; die Haslerin und die Jeusserin Emd allein.


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